Ein passender Artikel zum Thema: Quelle NZZ
Die letzten Tage der Wissenschaft
Wie zeitfressende Parasiten das wissenschaftliche Zeitalter beendeten
Kultur 1. April 2008
Von Gottfried Schatz
Die lebendige Natur duldet kein ungehemmtes Wachstum. Wenn eine Lebensform sich zu stark vermehrt, lockt sie R?uber oder Parasiten an, die an ihr zehren und sie sogar vernichten k?nnen. Diesem unerbittlichen Gesetz fielen auch die einst so erfolgreichen Wissenschafter zum Opfer. Sie regierten die Welt und verunsicherten ihre Umwelt mit Ideen und Entdeckungen, um die sie niemand gebeten hatte. Sie waren bereits auf gutem Wege, die ?dunkle Materie? des Universums und die Arbeitsweise unseres Gehirns zu verstehen. Vielleicht h?tten sie sogar die Grammatik der menschlichen Ursprache aufgedeckt, wenn sie gen?gend Zeit zum Nachdenken gehabt h?tten. Doch pl?tzlich zerst?ckelten Parasiten ihnen diese Zeit zu zielloser Gesch?ftigkeit. Diese zeitspaltenden Chronoklasten lebten von der Zeit anderer, so wie wir von der Nahrung oder Pflanzen vom Sonnenlicht leben.
Fr?hformen
Chronoklasten hatten seit je zusammen mit Wissenschaftern gelebt. Sie sahen diesen t?uschend ?hnlich, liessen sich aber daran erkennen, dass sie an Kongressen stets um die gefeierten Stars herumschwirrten, diese ausschliesslich beim Vornamen nannten und bei deren Vortr?gen in der vordersten Reihe sassen. Sie besassen einen hochempfindlichen Sensor f?r Ber?hmtheit und verstr?mten einen fl?chtigen Lockstoff, der r?ckhaltlose Bewunderung und Ergebenheit vorspiegelte. Damit erreichten es Chronoklasten meist ohne grosse M?he, zu einem Vortrag eingeladen zu werden und auf diese Weise ihrem unfreiwilligen Gastgeber mindestens zwei konzentrierte Arbeitstage zu geistiger Makulatur zu zerst?ckeln. Besonders einfallsreiche Chronoklasten wussten es sogar einzuf?deln, dass der eine oder andere Wissenschafter sie f?r einen unbedeutenden wissenschaftlichen Preis oder ein Ehrendoktorat an einer drittklassigen Universit?t vorschlug ? und dann wohl oder ?bel ungez?hlte Stunden mit dem Verfassen lobender Gutachten oder in Fakult?ts- oder Preiskomitees vergeuden musste.
Wissenschafter hatten jedoch gelernt, sich gegen diese Fr?hformen der Chronoklasten zu wehren. Sie behandelten sie m?rrisch und herablassend, liessen ihre Briefe unbeantwortet, machten auf Kongressen um sie einen weiten Bogen und gingen manchmal so weit, sie den Unbilden einer Universit?tskantine auszusetzen. Sie entrannen ihnen damit zwar nicht, konnten sie aber unter Kontrolle halten und als unwillige Wirte mit ihnen im Gleichgewicht leben. Viele Wissenschafter hofften, dies w?rde immer so bleiben.
Doch diese Wirte hatten die Rechnung ohne den Parasiten gemacht. Als Wissenschafter f?r ihre Forschung immer mehr Geld brauchten und deshalb zum Spielball von Politik und Verwaltung wurden, ?bersahen sie die ihnen daraus erwachsenden Gefahren und vergruben sich wie eh und je in ihren Laboratorien und Bibliotheken. Die Parasiten hingegen erkannten ihre Chance und mutierten zu einer hochvirulenten Form, die im Nu Ministerien und Universit?tsverwaltungen unterwanderte und die Zeit der Wissenschafter mit Hilfe dieser m?chtigen Organisationen vernichtete. Statt Sensoren und Lockstoffen verwendeten die Chronoklasten nun bedrohliche Kommandolaute wie ?intra-?, ?trans-? und ?multidisziplin?r?, ?Schwerpunkt?, ?Masterplan?, ?Portfolio?, ?center of excellence?, ?relevant?, ?governance?, ?Vision?, ?multifokal?, ?Ranking?, ?impact factor?, ?Fokussierung?, ?Vernetzung? oder ?Effizienz?. Was diese Laute bedeuteten, welcher Sprache sie angeh?rten und ob sie ?berhaupt eine Sprache waren, ist bis heute ungekl?rt.
Chronoklasten inspirierten sich zudem an der Computertechnik und erfanden die ?massive parallel infection? ? den elektronischen Massenversand kurzfristiger Aufforderungen zu langfristigen ?master plans?. Dank dieser ?on-line governance? konnten sie nun ihren Opfern mit einem einzigen Mausklick gewaltige Zeitmengen entreissen und multifokal vernichten.
Selbst dies h?tte jedoch nicht gen?gt, um die Wissenschafter-Spezies bis an den Rand der Ausrottung zu dezimieren, denn wie alle Parasiten mussten auch Chronoklasten darauf achten, sich ihre eigenen Wirte zu erhalten. Das Wechselspiel zwischen Wirten und Parasiten ist jedoch ein listenreicher Kampf, der manchmal unerwartete Wendungen nimmt. Wissenschafter fanden n?mlich Gefallen daran, nicht mehr lange und angestrengt nachdenken zu m?ssen und stattdessen nur noch Frageb?gen auszuf?llen oder ihrer Kreativit?t im Komponieren von ?master plans? freien Lauf zu lassen. Am liebsten schrieben sie jedoch Jahresberichte. Sie wussten zwar, dass niemand diese las, konnten sie aber auf Hochglanzpapier drucken lassen und ? mit ihrem Konterfei an prominenter Stelle ? wie einen Weihnachtsgruss zu Tausenden in alle Welt versenden.
Verwirrte Natur
Bald beherrschten viele Wissenschafter auch die Kommandolaute der Chronoklasten so fliessend und akzentfrei wie diese selbst und wurden unmerklich selbst zu Parasiten. Diese neuen Wirtsparasiten unterschieden sich kaum von den urspr?nglichen Parasitenwirten; als typische Konvertiten waren sie aber mit viel gr?sserem Eifer und profunderem Fachwissen bei der Sache als die alten Parasiten und verdr?ngten diese von ihren Machtpositionen. So wurden die Wirtsparasiten zu Parasiten der noch verbliebenen Parasitenwirte ? ja sogar zu neuen Parasiten der alten Parasiten. Dieses heillose Durcheinander verwirrte selbst die sonst so souver?ne Natur. Sie hielt pl?tzlich so viele F?den in der Hand, dass sie den roten verlor und den seidenen, an dem das Schicksal der Wissenschafter hing, fahrenliess und der Selbstausrottung der Wissenschafter tatenlos zusah. Wissenschafter, die gen?gend Zeit zum Nachdenken haben, fristen deshalb heute nur noch in biologischen Nischen und Reservaten ein k?mmerliches Dasein.
Kaum jemand vermisst sie, denn ?ber Jahrhunderte hinweg hatten sie und ihre Artgenossen altvertraute Glaubensregeln und ?berlieferungen in Frage gestellt oder gar als Unsinn abgetan. Nun ist endlich alles wieder im Lot: Krankheiten sind psychosomatisch, Medikamente Schwingungen und Universit?ten postdisziplin?re Glaubenszentren. Der Mensch lebt wieder im Einklang mit sich und der Natur. Diese kennt jedoch kein stabiles Gleichgewicht und k?nnte den Chronoklasten das gleiche Schicksal bescheren wie einst den Wissenschaftern. Die Angst vor einem Wiederaufleben wissenschaftlicher Tyrannei w?chst ? und auch die Konstellation der Planeten verheisst nichts Gutes.
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Man h?rt nicht auf zu spielen, weil man ?lter wird. Man wird ?lter, weil man aufh?rt zu spielenSwissmade
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